«Er steht halt jeder Zeit»: Junge Männer greifen zu Viagra
Von Katrin Hafner. Aktualisiert am 22.04.2009
In der Schweiz werden immer mehr Potenzmittel konsumiert. Interessiert daran sind auch junge Männer – aus Neugierde, Unwissenheit oder weil sie unter Leistungsdruck stehen.
Der 16-Jährige äusserte seinen Wunsch direkt: Er möchte gerne Viagra
verschrieben bekommen, damit sein erstes Mal auch sicher gut klappe.
Andreas Geiser, Kinder- und Jugendarzt in Schlieren, erinnert sich gut an den
Jungen. «Er hatte noch nie mit einer Frau geschlafen, hatte auch keine
Freundin. Viagra sollte sein Fallschirm sein, die Absicherung, dass er nicht
Ein alarmierendes Zeichen? Sind wir schon so weit wie in Argentinien, wo
junge Männer, gemäss jüngsten Medienberichten, mittlerweile lieber Geld für
Viagra ausgeben als für Präservative? Auch hierzulande nimmt der Konsum
von Mitteln gegen Erektionsstörungen massiv zu. Von Jahr zu Jahr werden
mehr Tabletten geschluckt – sei es nun Viagra oder eines der
Konkurrenzprodukte. 2008 wurden offiziell rund 6000 Pillen pro Tag
gekauft; 25 Prozent mehr als vier Jahre zuvor.
Thema in Schulen und auf Partys
Dies ist jedoch nur die Spitze des Eisberg s: Die Zahlen von IMS Health,
einem Anbieter von Informationen und Dienstleistungen für die Pharma- und
Gesundheitsindustrie, belegen nämlich lediglich den Verkauf von Viagra,
Levitra und Cialis über die offiziellen Kanäle – also mit Rezept via Apotheke,
direkt beim Arzt oder im Spital. Viele Männer versuchen allerdings, ohne
Rezept an Potenzmittel zu kommen. Die Bahnhofapotheke Zürich etwa
berichtet von mehreren Anfragen pro Woche. Besonders glatt läuft der
Handel im Internet. Dort boomt das Geschäft mit der blauen Pille. Zahlen
gibt es keine; alleine die Untersuchungen der Eidgenössischen Zollverwaltung
und Swissmedic über illegale Arzneimittelimporte lassen aber erahnen, dass
Elf Jahre nach der Markteinführung von Viagra konsumieren es längst nicht
mehr nur ältere Semester. Erektionsmittel haben selbst in der Partyszene
Einzug gehalten. «Ich kenne diverse Kollegen, die damit positive Erfahrungen
gemacht oder für alle Fälle eine Potenzpille dabei haben», sagt Sophie Kaiser
vom Veranstalter Castleevents, der erotische Partys in Schlössern organisiert.
Marcel Sturzenegger hat Viagra ausprobiert, obwohl er keinerlei
Erektionsprobleme hat. In Schwulenkreisen sei das eine Zeit lang der
absolute Renner gewesen: «Er steht halt jederzeit, besser wird der Sex
Dass unter 20-Jährige interessiert sind an Erektionsmitteln, zeigen Fragen
auf Internetseiten und Erfahrungen von Sexualpädagogen und Schulärzten.
«Hallo, ab wie viel Jahren darf man sich Potenzmittel kaufen, und wo
bekomme ich so was her? Nur in Apotheken oder auch in Drogeriemärkten?»,
schrieb zum Beispiel ein anonym bleiben wollender Jugendliche auf die
Internetsite www.lilli.ch. Peter Gehrig, Psychiater, Sexologe und fachliche
Begleitperson der Lilli-Homepage, meint: «Es sind heute eindeutig mehr
junge Männer an Viagra interessiert als noch vor wenigen Jahren.» Dies
bestätigt auch Sexualtherapeut in Esther Elisabeth Schütz. «Die
Hemmschwelle für Erektionsmittel ist gesunken. Viele junge Männer denken
heute, wenn sie zu viel Alkohol oder andere Drogen genommen haben, klappe
es mit dem Beischlaf dank Viagra doch noch.» Ausserdem sei generell die
Neugierde bezüglich sexueller Erfahrungen gestiegen: «Heute probieren die
Jungen viel mehr aus. Sie haben früher und häufiger Anal- und Oralverkehr
Internet fördert Leistungsdruck
Das hat auch mit dem Internet zu tun. Pornofilme regen zu Experimenten an,
Spam-Mails für Erektionsförderer und Online-Inserate zementieren die
Vorstellung, ein Mann müsse immer sofort eine Erektion bekommen können.
Solche Bilder setzen sich in der öffentlichen Meinung fest. Sie konfrontieren
selbst sehr junge Männer mit Fragen rund um ihre Potenz – und
verunsichern. «Es ist die Idee der Dauergeilheit, die verbreitet wird, und auch
das falsche Bild, Erektionsförderer seien Lustpill en, die zu besserem Sex
beitrügen», kritisiert Esther Schütz. Gekoppelt mit oft diffusen Vorstellungen
von gutem Sex, können junge Männer so unter Leistungsdruck geraten. Sie
bekommen Versagensängste – und allein deswegen möglicherweise
Erektionsprobleme, was in einen Teufelskreis führen kann.
Viagra und Konsorten, so suggeriert die Werbung, können helfen, aus dieser
Spirale herauszufinden. Zwar dürfen Pharmaproduzenten für das
rezeptpflichtige Medikament nicht werben, mit «Aufklärungskampagnen»
aber hat etwa die Firma Pfizer – die mit Viagra das global am meisten
verkaufte Medikament gegen erektile Dysfunktion produziert – darauf
aufmerksam gemacht, dass die blaue Pille nicht nur betagten Männern helfen
kann. Damit habe man die Impotenz enttabuisieren wollen, lautet Pfizers
Erklärung. Gleichzeitig brachte die Kampagne wohl auch an sich gesunde
Jugendliche auf die Idee, ihrer Erektionsfähigkeit nachzuhelfen.
Die Erektion sei für die meisten Männer bezüglich Sex das Thema
schlechthin, sagt Didi Liebold, sexologischer Körpertherapeut. «Viagra ist
immer beliebter, weil es scheinbar auf Knopfdruck eine Lösung bietet.»
Allerdings propagieren er und seine Berufskollegen einen anderen Ausweg,
sollten sich tatsächlich Ängste oder gar Schwierigkeiten einstellen:
entkrampfte Aufklärung. Liebold: «Sexualität kann man lernen. Sexuelle
Erregung und Erektion sind unterschiedliche Dinge. Für Ersteres hilft keine
Ähnliches hat auch der Arzt Andreas Geiser seinem 16-jährigen Patienten auf
die Viagra-Bitte geantwortet. «Ich versuchte ihm zu erklären, dass
Erektionsmittel nur bei krankhafter Impotenz sinnvoll sind und dass er in
seinem Alter kein Viagra braucht.» Nach dem Gespräch habe sein Patient
entlastet gewirkt. Eine wichtige Voraussetzung, um den Leistungsdruck und
das Bedürfnis nach chemischen Hilfsmitteln bei einem jungen, gesunden
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