Sexualität:

Sexualstörung als kommunikatives Signal in der Paarbeziehung
In der systemischen Psychotherapie ist es selbstverständlich, jedes Verhalten, jedes Problem, jede Störung in einem Gesamtkontext zu betrachten. Die Einbettung jedes Menschen in Makrosysteme, z.B: Gesel schaft, Religion, Gesinnungsgemeinschaften, in Mikrosysteme wie Familie, Freunde, Arbeitskontext und in das System im Individuum selbst, seine inneren Anteile.
Sexualität umfasst grundlegende menschliche Bedürfnisse nach Lustgewinn, Beziehung zu einem Partner, Reproduktion. Sie ist prägend für die Persönlichkeitsentwicklung und hat Einfluss auf das Selbstwertgefühl. Allgemeines psychisches und physisches Wohlbefinden ist zu einem Teil abhängig von sexueller Zufriedenheit. Erlebnis- und Ausdrucksträger ist der Körper, daher werden Störungen im sexuellen Erlebnisbereich im Sinne des Wortes "verkörpert".
Sexuelle Störungen kommen zumindest zeitweilig bei fast jedem zweiten Paar vor. Charakteristische Korrelationen sind z.B. Lebensalter, lebensgeschichtliche Risikofaktoren. Menschliche Sexualität ist also als psycho- sozio- somatisches Geschehen aufs engste mit psychosomatischem Wohlbefinden, Gesundheit und Nicht nur "kranke“ Funktionen oder Organe, nicht nur der ganze Mensch mit seiner individuellen Psychodynamik stehen im Mittelpunkt der Betrachtung, sondern ein interindividuel es Beziehungssystem, Interaktions- und Kommunikationsmuster.
Sexuelle Störungen - auch wenn sie sich geschlechtsspezifisch in jeweils männlichen oder weiblichen Individuen manifestieren - sind in größerem Zusammenhang des Das Auseinanderklaffen von körperlichem Tun und der partnerschaftlichen Wirklichkeit wirkt pathogen und kann zu direkten Funktionsstörungen führen.
Die sexuelle Funktionsstörung kann demnach als psychosomatische Antwort auf eine Diskrepanz zwischen Aussage der sexuellen Körpersprache und der Beziehungswirklichkeit aufgefasst werden.
(Loewit, in: Uexküll, Psychosomatische Medizin) Gesel schaftlich ist eine zunehmende Brüchigkeit der Beziehungen zu beobachten, Scheidungsraten steigen, die Kinderzahl pro Partnerschaft reduziert sich. Andere Lebensformen als die bisher traditionelle „Familie“ werden häufiger: Ein oder Zwei- Personenhaushalte, Alleinerzieher, Patchworkfamilien, Lebensabschnittspartnerschaften, gleichgeschlechtliche Partnerschaften.
Waren früher Beziehungen materiell oder institutionell getragen, sind sie heute nahezu ausschließlich um Ihrer selbst willen geschlossen, weshalb Beziehungen nur solange halten, als sich die Beteiligten wohl fühlen, solange Verhandlungen zwischen den Partnern zu tragbaren und lebbaren Einigungen führen.
Das bedeutet, die Erwartungen an die Partnerschaft sind anders: Die Kinderzahl pro Partnerschaft geht zurück, das heißt Erwartungen betreffen eher die Partnerbeziehung als die Elternbeziehung, was wieder bedeutet, dass die Erwartungen vor al em den Bereich intensiver emotionaler Bindung und der Die gesel schaftlichen Rollenbilder haben sich geändert – aber wirklich? Welter- Enderlin (1994) spricht von einer „unfertigen Revolution“. Die scheinbare Rollenänderung ist nicht tatsächlich in den realen gesellschaftlichen Verhältnissen verankert: in Politik, Arbeitswelt, Familie.
Die selbständige, sexuell attraktive Frau ist gefragt, aber zu selbstsicher und fordernd darf sie nicht sein, auch hat sie sich zusätzlich ihren traditionellen Aufgaben Auch Männer stecken in einer Übergangskrise – besonders junge Männer möchten oft nicht mehr den Männlichkeitswahn mitmachen. Aber auch emanzipierte Männer tun sich schwer, mit starken Frauen zu leben, Kontrol e abzugeben und sich Umgekehrt sind scheinbar die „neuen Männer“ wenig erotisch anziehend für Frauen. Welter-Enderlin nennt zwei mögliche Ursachen dieses Phänomens: 1) Frauen trauen dem Mann nicht, der zwar intellektuell seine weiblichen Anteile fordert, im realen Zusammenleben aber nicht gewillt ist, seinen Zugang zu 2) Ein Mann, der die Rolle umkehrt und sich zum Objekt macht, um aus seiner traditionel en Rolle des „Begehrers“, des Fordernden zu schlüpfen, wird sexuell unattraktiv, da die aggressive Komponente der Sexualität völlig Auch der öffentliche Umgang mit dem Thema Sexualität hat sich verändert.
Es finden sich in nahezu jedem Medium Darstellungen von Sexthemen in Wort, Bild und Ton – kaum etwas bleibt verborgen, die Sexszenen im Film lassen kaum mehr Spielraum für Fantasie. Das Internet eröffnet Möglichkeiten, im Schutzmantel der Anonymität, jederzeit Pornografie zu konsumieren.
In der Schule wird der „Aufklärungsunterricht“ zwar selbstverständlicher, doch wird inhaltlich eher auf die Funktion der Organe fokussiert und nicht auf den Es findet eine „Normverzerrung“ statt, die uns scheinbar allgemeingültige Bilder der sexuellen Erlebniswelt vermitteln, die sich wie Mythen in den Köpfen als Ansprüche und Erwartungen an sich selbst und an den/die PartnerIn festsetzen. Ein paar Beispiele solcher hartnäckiger Mythen: Wer kennt nicht die Filmszenen: nach etlichen Verwirrungen endlich der erste Kuss, beide sinken aufs Bett oder sonst wo hin, um sich im lustvollen Rausch zu verlieren. Natürlich kann das tatsächlich vorkommen, doch solche Szenen gaukeln vor, dass Sex etwas ist, das selbstverständlich sofort wunderbar funktioniert, zwei, bisher sozusagen Fremde, wissen intuitiv was der/die Andere braucht, was er/sie will. Damit sind wir bei einem zweiten Klischee, das aus der sexualtherapeutischen Praxis gesehen, von Männern sehr häufig als belastend erlebt wird: Ein guter Liebhaber weiß, was Frau will. Er muss nicht fragen, braucht keine Anleitung. Er „bringt“ sie natürlich immer zum Orgasmus, wenn sie keinen erlebt, ist er „schuld“. Abgesehen davon, dass dieser Mythos Frauen keinen eigenen Gestaltungsraum lässt, sie in ihrem Erleben als völlig abhängig vom Mann erscheinen lässt, wird Sexualität abgehoben von jedem Seelenzustand dargestel t, die Beziehungskomponente, das Eingebettetsein in Lebensumstände vollkommen vernachlässigt.
Ein weiterer Mythos, der hartnäckig tradiert wird ist, dass Mann al zeit bereit ist und immer und überall „kann“. Es ist oft geradezu grotesk in der Psychotherapie zu hören, dass beispielsweise Männer, die gerade einen Rosenkrieg durchmachen, die Trennung von den Kindern verkraften müssen, in finanziellen Nöten stecken sich wundern, wenn es in der Sexualität mit der neuen Freundin nicht klappt. Es herrscht in jeder Kultur eine gesel schaftliche Übereinkunft, was „normale“ Sexualität bedeutet. Sexualität zu leben, potent beziehungsweise orgasmusfähig zu sein wird als Selbstverständlichkeit in allen Medien dargestellt. Es wird der Mythos genährt, beide Partner empfinden gleich, haben gleiche Wünsche und Bedürfnisse, erlangen gleichzeitig Befriedigung. Dies erzeugt ein Idealbild, das - wenn es in der Beziehung nicht verwirklichbar ist - zu Konflikten führt, unweigerlich ein Defizitgefühl hervorruft, nicht „der Norm“ zu entsprechen, etwas nicht richtig zu machen. Beziehung und Sexualität ist jedoch ein Entwicklungs- und Lernprozess, dessen „Norm“ ausschließlich das emotionale und körperliche Wohlbefinden der Partner sein So wie es gesel schaftliche Rollenbilder gibt, die sich hartnäckig halten, spiegeln sich diese Rol en auch in der Sexualität als Klischees wider. Mann begehrt, Frau lässt begehren, Mann packt zu, Frau lässt zu, Mann steht für Leidenschaft, Frau für Liebe. Das bedeutet: Mann deutlicher Aktivist, Frau in der Passivrolle (Welter-Enderlin). Dieser Unterschied liegt in der Ungleichheit der sexuellen Sozialisation von Buben und Mädchen, die bis heute – trotz sexueller Revolution, freier Liebe und medialer Aufhebung sexueller Tabus – tradiert wird. In den letzten Jahren haben sich die sexuel en Symptombildungen verändert. Waren es früher bei Frauen eher Störungen der physiologischen Reaktion (Lubrikation, Orgasmusprobleme oder Vaginismus) sind es heute die Appetenzstörungen (sexuelle Lustlosigkeit), die im Vordergrund stehen.
Vor al em die diagnostische Bewertung und Klassifizierung weiblicher Sexualstörungen hat sich gewandelt. Störungen werden nicht mehr betrachtet, als hätten Frauen die gleiche Sexualität wie Männer.
Reine Funktionsstörungen (am Ausführungsorgan auftretende Hemmungen) bei Frauen sind Empfindungsstörungen gewichen.
Auch die Schilderungen der Klientinnen haben sich geändert. Sie gehen sehr viel mehr von eigenen Vorstellungen und Wünschen aus, nehmen die Unterschiede zu den Erwartungen der männlichen Partner konkreter wahr. Früher schilderten die Frauen ihre Schwierigkeiten eher aus der Sicht der Männer.
Beim männlichen Klientel der Sexualberatungsstellen lässt sich eine geringe Abnahme der Erektionsprobleme beobachten. Allerdings ein Scheinphänomen, da zunehmend eine Medikalisierung der männlichen Sexualität auftritt, eine rasche Reparatur der biologischen Funktion angestrebt und von der Medizin unterstützt wird. (z.B: durch das Medikament Viagra); Wichtig wäre gerade hier die Symbolik des Symptoms zu beachten, die Partnerin mit ein zu beziehen und nicht ohne die Paarbeziehung in der Anamnese zu hinterfragen, Viagra zu verschreiben.
Es ist somit ein Trend zur Psychologisierung der weiblichen Sexualität (und damit auch deren Störungen) zu beobachten, dem gegenüber steht eine Renaissance der Sexualmechanik bei den Männern. (Buddeberg) Das lässt einen Einblick auf die unterschiedlichen Konzepte der Sexualität bei Sind Frauen in ihrem Erleben der Sexualität mehr auf Erlebnis- und psychologische Aspekte orientiert, scheinen Männer mehr auf somatisch-biologische fixiert.
Übereinstimmend wird aus den westlichen Ländern berichtet, dass eine drastische Zunahme der sexuellen Lustlosigkeit als Präsentiersymptom bei Frauen aber auch Gunter Schmidt (1996) nennt vier sozialpsychologische Hypothesen dazu: • Emanzipation hilft möglicherweise, dass das Symptom präsentierbar geworden ist durch die Zunahme an Autonomie und Selbstbestimmung bei Frauen aber auch bei Männern. Früher hatten Frauen quasi in andere Symptome „flüchten“ müssen (Orgasmus- und Erregungsstörungen) • Es gibt eine „natürliche“ Lustlosigkeit. Das heutige Idealbild und die hohen Erwartungen an eine Partnerschaft, lassen diese jedoch nicht zu. Es wird rascher professionelle Hilfe in Anspruch genommen • Der öffentliche Umgang mit Sexualität führt zu einer Rationalisierung• Eine Tabuisierung der aggressiven Komponente der Sexualität gefährdet die Betrachtet man das kommunikative Element der beiden Störungsbilder Lustlosigkeit (ich kann, aber ich will nicht) und Erektionsstörung (ich will, aber ich kann nicht), erkennt man den Erlebnisbereich Sexualität als Ausdruck der Beziehungsrealität und Beziehungsdynamik bei sexueller Lustlosigkeit: Symptome stehen als Metaphern und Symbole für Affekte und Konflikte, die den Betroffenen mehr oder weniger bewusst sind.
Nach Buddeberg schildern Frauen mit Lustlosigkeit ihre Partnerschaft überdurchschnittlich häufig sowohl über die Monotonie ihres Alltags als auch über die Monotonie der Zweierbeziehung. Alltag bietet das Bild einer friedlichen Mittelmäßigkeit. Es herrscht wenig Interesse aneinander, Geschlechtsverkehr vom Mann gelegentlich gewünscht, von der Frau toleriert. Das Desinteresse aneinander ist auch in anderen Beziehungsbereichen erkennbar. Mangelnde Anerkennung, Vernachlässigung, Entwertung, Demütigung in mehr oder weniger subtiler Weise Männer mit Erektionsstörungen geben häufiger ein auslösendes Ereignis an, als dessen Folge sie die Störung erlebten. (Heirat, Fremdgehen, berufliche Veränderung, Familienstreit.) Fehlende Erektion als Ausdruck von Unsicherheit und Die Folge ist sexuelles Desinteresse, das „Versagen“ führt zunächst zu einem Vermeidungsverhalten. Die Partnerin muss akzeptieren, dass der Symptomträger sich aus intimen Kontakten zurückzieht, um sich vor etwas zu Oft arrangieren sich beide Partner stillschweigend, um ihr Idealbild der harmonischen Partnerschaft nicht zu gefährden. Zweifel und Kritik, Aussprechen von Unzufriedenheit haben keinen Platz. Selbst wenn die Realität des Ehealltags immer frustrierender wird, wird am Ideal Verliebtheit und Harmonie festgehalten oder In der Therapie zeigt sich diese Diskrepanz sehr schnell und das Idealbild bröckelt Die sexuellen Symptome können dann erkannt werden (Buddeberg): • Als Zeichen einer Rebellion / Resignation eines übersteigerten • Als sanfte Waffe eines latenten partnerschaftlichen Machtkampfes• Als Reaktion auf althergebrachte sexuel e Klischees, welche auf den Partnern Oft ist Erleichterung festzustellen, dass in der Therapie endlich eine Möglichkeit eröffnet wird, eine direkte Auseinandersetzung zu führen. Die Erkenntnis darüber was jahrelang gefehlt hat (offener Streit, Verbalisieren einer Meinungsverschiedenheit, Andersseindürfen, .) erhält endlich Raum. Das Akzeptieren einer Mischung aus liebevollen und aggressiven Gefühlen in der Sexualität stellt häufig einen zentralen Punkt in der psychotherapeutischen Arbeit Ein Paar kommt mit dem Problem, dass der Mann seit einiger Zeit Erektionsstörungen entwickelt hat. Er kann das nicht verstehen und ist ziemlich verzweifelt, da er ja seine Frau liebt und an der Sexualität immer Freude hatte. Sie ist zwar verständnisvoll, verliert aber zunehmend die Geduld, weil ihre Befriedigung auf der Strecke bleibt. Er ist ein sehr einfühlsamer, die Harmonie liebender Mann, mit dem man al es besprechen kann, der gut zuhören kann. Sie ist eine sehr selbstbewusste Frau, der Unabhängigkeit wichtig ist. Sie lässt sich aber gerne begehren und umschwärmen. Liebt romantische Abende. Vor einem Jahr hatte sie eine leidenschaftliche Affaire mit einem viel jüngeren Mann. Sie beichtet dem Ehemann, fordert, dass er ihren Seitensprung akzeptiert und diese außereheliche Beziehung versteht. Er reagiert verständnisvol , da er ihr nicht eine wichtige Lebenserfahrung Seither entwickelte sich die Erektionsstörung. Seine Kränkung und seine Wut lässt er nicht zu, da dies nicht zu seinem toleranten Weltbild passen würde. Da er keine Grenze zieht und seine Gefühle nicht verbalisieren kann, übernimmt der Körper für Herr F. und seine Frau kommen nach langem Überlegen zu dem Schluss, eine Samenspende durchführen zu lassen. Sie hatten das Gefühl, genug darüber gesprochen zu haben, für Herrn F. schien dies kein besonderes Problem darzustellen. Das Paar wusste, beide wol en Kinder, also ist dies der einzige Weg, den sie sich vorstel en konnten. Innerhalb von vier Jahren entstanden auf diesem Weg zwei Kinder. Das Paar war glücklich. Nach etwa drei weiteren Jahren, suchte das Paar mich auf, da Frau F. immer seltener Lust auf Sex hatte und dies ihren Partner sehr verunsicherte. Nach und nach stel te sich heraus, dass Frau F. ihren Partner anders als früher erlebte. Er war immer sehr bestimmt, hatte seine Meinung verteidigt, legte Wert auf eigene Aktivitäten. Seit dem Kinderwunsch sei er sanfter, nachgiebig, trachte viel mit seiner Frau zusammen zu sein, habe kaum eigenständige Wünsche. Frau F. spürte immer häufiger heftige Aggressionen gegen ihren Mann, suchte ihn durch Streitereien aus der Reserve zu locken, was meist misslang. Er zog sich solange zurück, bis sie aufhörte „zu spinnen“, dann war al es wieder eitel Wonne. Nach einigen Gesprächen über das Thema Kinderwunsch, gab er zu, dass die Tatsache, infertil zu sein, doch mehr an ihm nagte, als er zugeben wol te. Er habe das Gefühl, quasi nicht mehr „das Recht“ zu haben, auf Dingen zu beharren, oder auf sein Eigenleben zu bestehen, da seine Frau ja seinetwegen diese Behandlung machen musste, die ihr nicht angenehm war. Der "Wandel" des Mannes machte ihn für seine Frau immer weniger sexuel attraktiv. Konfliktfreie Beziehung – perfekte Liebe? Konflikte entstehen in einer Partnerschaft, wenn zwei starke, ihrer sich selbst bewussten Menschen zusammenleben. Wie werden die Konflikte ausgetragen? Was bedeutet „Konflikt“ für jeden Partner in seinem persönlichen Wertesystem? Auffällig ist, dass Berichte und Statistiken über Sexualtherapien übereinstimmen, dass der Anteil der funktionellen Sexualstörungen zurückgegangen ist und das Problem „keine Lust“ sowohl bei Mann als auch Frau geräumigen Platz einnimmt als Barometer des Zustandes der Beziehung. (Buddeberg 1987, Schmidt, 1996) Lust erstickt in Harmonie oder zugeschüttet von ungelösten Alltagsdauerkonflikten.
Genau wie die gesel schaftliche Entwicklung nicht wirklich die Gleichberechtigung der Frau gebracht hat, ist die sexuelle Befreiung von alten Normen und Werten eine Chimäre. Kratzt man ein wenig an der Oberfläche der Beziehung findet man erstaunlicherweise, dass der „weibliche Mann“, der versorgende, mütterliche, verständnisvolle Freund für al e Lebenslagen, der immer bereit ist, einen liebevoll an die Brust zu drücken, und der Harmonie anstrebt, sexuell als völlig unattraktiv erlebt wird. Er ist kein Kämpfer, sondern bereit sich anzupassen, bietet kaum Widerstand. Andererseits tun sich Männer schwer mit Frauen, die wissen, was sie wollen: sie Berechenbarkeit – Verunsicherung, Sicherheit/ Unsicherheit Ein sicher wichtiger Baustein einer gelungenen Beziehung ist eine Basis der Sicherheit, des Vertrauens, der Vorhersagbarkeit der Reaktionen des Partners. Dies stellt aber offensichtlich ein Kontinuum dar. An dem einen Pol steht die absolute Sicherheit und Vorhersagbarkeit, auf dem anderen die absolute Unsicherheit und Unvorhersagbarkeit, also keine verlässliche emotionale Bindungsebene.
Nähert sich das Beziehungsmuster dem Pol der Unsicherheit, ist die Basis des Vertrauens nicht möglich und ein Loslassen, Kontrolle abgeben, sich überlassen wird riskant, angsterzeugend. Diese Atmosphäre der Beziehung zieht Vermeidungsverhalten, funktionel e Störungen (Erektionsstörungen, Das andere Ende des Kontinuums steht für maximale Vorhersagbarkeit, emotionale Sicherheit, spannungsarme Atmosphäre, ist aber eher Boden für Lustlosigkeit und Langeweile. Das heißt, für das Aufrecherhalten einer befriedigenden Sexualität in festen Beziehungen ist ein Stück Unsicherheit, das neugierig erhält, notwendig.
Das bedeutet, dass von beidem da sein muss, um sexuelle Spannung erzeugen und erhalten zu können. Die „Mischung“ ist sicher individuel aber auch phasenweise verschieden. Fehlt aber jegliche Art von Vertrautheit verhindert dies ebenso sexuelle Spannung wie ein Übermaß an Vertrautheit – also das Fehlen von Fremdheit.
Wohin müsste eine Entwicklung zur befriedigenden Sexualität in einer festen Beziehung gehen? Beide Geschlechter müssen lernen zuzupacken und loszulassen, aggressiv begehren zu können und genussvoll geschehenlassen zu können. Gedanken zum derzeit häufigsten Symptom „Keine Lust“ Gunter Schmidt (1996) betrachtet das Symptom aus vier Perspektiven: paardynamisch, biographisch – sozial, final und feministisch.
Zum paardynamischen Aspekt meint Schmidt, obwohl mehr Frauen als Männer mit diesem Symptom die Beratungsstelle aufsuchen, ist der Schluss, es sei ein Frauenproblem, nicht zulässig. Oft ist die Rollenaufteilung in der Paarbeziehung so, dass die Frau quasi die Öde der Beziehung darstellt, der Mann sie verleugnet.
Sie verweigert, er kann weiterhin erobern und sich mächtig fühlen.
Er kann sich durch die Lustlosigkeit der Frau weiterhin als potent und überlegen fühlen, sie sichert sich gleichzeitig die Rolle der Begehrten – beides Zustände, die erstrebenswert erlebt werden – konserviert durch die „Störung“.
Die zweite Interpretationsmöglichkeit ist auf biografische und soziale Hintergründe der Partner zurück zu führen. Es ist eine Art Unfähigkeit zu beobachten, Lust oder Verlangen wahrzunehmen. Häufig lässt sich aus der Biographie der Klienten erkennen, dass aufgrund der Familiensituation und des Familienklimas schon früh gelernt werden musste, dass Wünsche und Bedürfnisse nicht erfül t werden, also besser erst gar nicht wahrgenommen werden sollen . Ein Teil der individuellen Allerdings ist auch eine andere Seite daran beobachtbar: die Genugtuung darüber, Wünsche und Triebe beherrschen zu können und somit von „Verführung“ Im finalen Verständnis stel t Schmidt die Betrachtung des Symptomgewinns in den Vordergrund: Lustlosigkeit ist Macht: andere wollen etwas, der Verweigernde nicht. Die Lustlosigkeit stellt den Sieg über „weiche“ Wünsche, alte Demütigungen dar. Die Dynamik der Verweigerung als Machtspiel.
Letztlich meint er zum feministischen Ansatz der Symptombetrachtung, dass Im Zentrum der Betrachtung das gesel schaftliche Machtgefäl e zwischen Mann und Frau steht. In der alltäglichen Sexualität zeigt sich oft einfach, dass sie keine Lust hat, was er will. (Margret Hauch, 1992) Lustlosigkeit als getarnter Widerstand gegenüber den Erwartungen des Partners.
Systemisch gesehen – Sexualtherapie als Paartherapie des Begehrens Konzipiert man Sexualtherapie als Paartherapie des Begehrens, ist der Fokus der Betrachtung eigentlich nicht das gemeinsame Können sondern die Differenz des Wollens. (U. Clement, 2001) Wichtiges Thema wird die Differenz zwischen individuel er und partnerschaftlicher Sexualität. Jeder Partner bringt seine eigene sexuelle Entwicklung, seine eigene sexuelle Vergangenheit in die Partnerschaft mit. Die Sexualität, auf die sich die Partnerschaft „geeinigt“ hat, ist nur ein Ausschnitt aus dem Spektrum der biografischen Entwicklung der Sexualität.
Fokus des therapeutischen Vorgehens ist demnach: Interventionen zu setzen, die das Spannungsfeld zwischen ungelebten Fantasien und gelebtem Verhalten aufzeigen, und die auf die Unterbrechung eingeübter sexueller Interaktionsmuster Meist hält ein Konfliktzirkel das Symptom aufrecht: der eine Partner sexuell interessiert, drängt den anderen, fühlt sich zurückgewiesen und gekränkt. Der andere, sich verweigernde Partner, fühlt sich bedrängt und in seinen Wünschen nicht respektiert. Daraus ergibt sich eine Patt- Stel ung, die keinen Weg zur Lösung zulässt, denn einer von beiden müsste „nachgeben“.
Ulrich Clement lenkt den Fokus in seiner von ihm entwickelten systemischen Sexualtherapie auf die Differenz des Wol ens um aus dieser wenig hilfreichen Was wollen die beiden Partner eigentlich wirklich unabhängig vom anderen? Das bedeutet, jeder muss hinter seinem „Versteck“ der Konfliktposition hervorkommen und Verantwortung für seine eigenen Wünsche und Fantasien übernehmen. Spektrum der erotischen Wünsche, Neigungen, Vorlieben, realisierte und nicht realisierte Praktiken, mögliche und unmögliche Partner.
Herausstellen werden sich Bereiche, die sich überlappen (gemeinsames sexuelles Spektrum) und Bereiche des individuellen Begehrens, die nicht vom Partner geteilt werden. (dies ist natürlich im Laufe einer Partnerschaft variabel) Der Umgang mit Differenzen in der Partnerschaft wird zur zentralen Frage. Der oben genannten Konfliktkollusion liegt das Ziel zugrunde, Harmonie und Übereinstimmung ohne trennende Unterschiede in der Sexualität zu erleben. Differenzen werden als nicht erwünscht erlebt und nicht akzeptiert. Würden sie akzeptiert, würde sich die Die Position der gemeinsamen Ebene muss verlassen werden, um sich als eigenständiges sexuelles Subjekt mit eigenem sexuellen Profil wahrzunehmen.
Sexuelle Entwicklungen werden oft gestoppt, aus Angst, den anderen zu verlieren, als Liebhaber nicht zu genügen, abgelehnt zu werden, aus Selbstwertmangel. Ob Irritationen im Sinne von Entwicklungsanstößen als bedrohlich erlebt werden oder neugierig machen, hängt vom Partner ab.
Sobald es aber an die individuel en Wünsche und Vorstellungen geht, steigt das Risiko für Kränkungen: nicht der/die Einzige zu sein, nicht die männliche oder weibliche Idealfigur des anderen zu sein, nicht zu passen usw.
Als Beispiel für eine Intervention lässt Clement die Partner „Das ideale sexuelle Szenario“ beschreiben: es wird vorgeschlagen, jeder der beiden Partner solle ein für ihn ideales Szenario entwerfen, ohne Rücksicht auf den Partner. (alleine aufschreiben, in ein verschließbares Kuvert stecken, dem Partner nichts darüber erzählen. Die Entscheidung, ob das Kuvert in der nächsten Sitzung geöffnet wird, Interessant für den Therapieverlauf ist, wird die Aufgabe „verstanden“, wird sie durchgeführt, wie wird mit dem Schweigegebot umgegangen, welche Vermutungen und Befürchtungen hat jeder in Bezug auf den anderen, wird das Szenario offengelegt, Reaktionen nach Offenlegung.
Dazu ein Beispiel aus meiner Praxis: Herr und Frau K. kommen in meine Praxis, weil er fremdgegangen ist, deswegen Schuldgefühle hat, da dieses Verhalten eigentlich nicht in sein Bild von Partnerschaft passe. Andererseits klagt er, dass seine Frau wenig Lust zum Sex zeige. Immer müsse er die Initiative ergreifen und dann sei sie rasch zu befriedigen und das war al es. Er hätte gerne mehr Abwechslung, mehr Spannung und Neues beim Sex, aber sie sei daran wenig interessiert, er habe den Eindruck, sie mache sich nie Gedanken über Sex. Reden könnten sie auch kaum darüber. Er habe ebenfal s zunehmend weniger Lust auf Sex. Die beiden leben seit 5 Jahren zusammen, sind verheiratet, haben eine kleine Tochter. Seit die Tochter auf der Welt ist, hat sich das Problem verschärft, da sich al es um die Tochter drehe. Aus der Sicht der Frau sieht das Problem so aus: er ist fremdgegangen, (irgendwie scheint es so, als wäre das gar nicht so „schrecklich“ für sie gewesen.) Sie habe wenig Lust verspürt, da die Tochter viel Zeit beanspruche und sie gleichzeitig wieder zu arbeiten begonnen habe. Sie sei immer zufrieden gewesen mit dem Sex so wie er war. Sex sei für sie nicht so wichtig wie für ihren Mann. (Was beide nicht wahrnehmen, jedoch bei der Exploration sichtbar wird: die Partnerschaft ist auf dieser Verhaltensweise aufgebaut, korrespondiert mit der gelebten Sexualität: er hat al e Freiheiten, geht einem zeitraubenden Hobby nach; sie arrangiert sich, fordert nichts von ihm, findet ihren Weg, und ist trotzdem zufrieden mit der Partnerschaft) Wir sprechen in Anlehnung an Clement über die Differenz der Wünsche. Es ergibt sich jedoch bei jeder Paarsitzung ein ähnliches Bild: Er spricht zwar über den Wunsch zur Abwechslung, ist aber nicht in der Lage Genaueres zu beschreiben. Sie wird schweigsam und ein Abblocken wird spürbar, sobald das Gespräch auf seine Forderung „sie sol e initiativ werden“ kommt. Da es nicht möglich erscheint, verbal weiter zu kommen, mache ich beiden den Vorschlag, jeder sol e für sich, ohne es dem Anderen zu zeigen, eine Col age zum Thema „mein sexuel es Wunschszenario“ machen. Sie sol en dazu Bilder aus Zeitschriften, Zeichnungen, Materialien, die ihnen passend erscheinen verwenden. Ich überlasse es beiden, ob sie die Arbeiten mitbringen möchten und herzeigen, oder darüber reden möchten. Zuerst „verstehen“ sie die Aufgabe nicht, zweimal vergessen sie darauf oder haben keine Zeit. Nach vier oder fünf Sitzungen bringen sie ihre Col agen mit. Beide sind sehr neugierig auf das Werk des Anderen - sie haben ausgemacht, die Col agen Frau K. hatte ausschließlich Stimmungsbilder verwendet (Sonnenuntergang, ein festlich gedeckter Tisch unter Palmen, ein Boot mit zwei nur als Umrisse wahrnehmbaren Gestalten, das in die Dunkelheit entschwindet), Herr K. hat sich für sehr konkrete Szenen entschieden, die aus Pornoheften stammten (eine Frau bei der Fel atio eines Mannes, dessen Kopf man nicht sieht, eine Frau in Reizwäsche, eine Frau, die gerade auf einem Tisch liegend befriedigt wird, usw.). Beide sind erstaunt über die Bilder, haben aber endlich eine konkrete Grundlage, über die sie nun reden können. Anhand dieser Bilder wurden die Unterschiede der Vorstel ungen besonders deutlich und konnten in den folgenden Stunden besprochen werden. Ich frage jedes Paar, das zu mir in Therapie kommt, nach deren Definition der Sexualität. Die Antworten lassen bereits interessante Gesichtspunkte bzw. schon deutliche Diskrepanzen zwischen Mann und Frau erkennen.
Buddeberg schreibt über Sexualität: „Sie ist eine biologisch verankerte Möglichkeit des Erlebens, das sich sowohl im individuellen Empfinden wie im partnerschaftlichen Wünsche nach Verschmelzung, nach absoluter Harmonie, nach Auflösung des Ich und Du in ein ausschließliches Wir, stehen in krassem Gegensatz zum Wunsch nach immerwährender Leidenschaft, nach erotischem Sich Hingezogen Fühlen und Prickeln, nach Begehrtwerden und Begehren. Manche Menschen haben ein Bild des idealen Partners im Kopf, mit dem totale Einheit und Harmonie lebbar ist, der al e Bedürfnisse befriedigt und das absolute Glück darstel t. Neben diesem von unstil barer Sehnsucht geprägten romantischen Bild, stehen ebenfalls feste Vorstellungen darüber, wie Partnerschaft ablaufen sollte, wie sich das Leben als Paar gestalten sol te, wie sich Partner verhalten sol ten.
Wenn nun zwei Menschen beschließen, eine Beziehung miteinander einzugehen, gilt es die schwierige Aufgabe zu lösen, diese Bilder im Kopf so miteinander zu verbinden, dass eine Basis eines für beide zufriedenstellenden Kompromisses entsteht – Grundlage und Bedingung für sexuel es Wohlbefinden. Jeder Partner bringt demnach persönliches Gewordensein mit ein, dazukommt die Dynamik des Miteinander. Im folgenden werde ich Faktoren beschreiben, die unterstützend sind und solche, die hinderlich wirken am Gesamtkonstrukt sexueller Interaktion. 1) Zunächst zur Bedeutung eigener, individueller Vorerfahrung: Sowohl für Beziehungsfähigkeit als auch zum sexuellen Wohlbefinden ist der familiäre Kontext in dem man aufgewachsen ist prägend. Wie hat sich die Beziehung zu den Eltern oder Ersatzfiguren gestaltet, wie wurde Nähe, Zärtlichkeit, Körperlichkeit ausgedrückt. Welche grundsätzliche Lebenseinstel ung konnte sich entwickeln in Bezug auf Vertrauen, Beziehung, Autonomie, Verantwortung, Selbstvertrauen, Eigeninitiative, Kontrollbedürfnis. Welches Körperbild ist entstanden, ist es positiv bejahend, negativ ablehnend.
Sexuelle Zufriedenheit aber auch Störungen sind zu einem wichtigen Teil auf diesem Wie entwickelt sich diese Fähigkeit, die als wichtige Komponente sowohl für Beziehungsfähigkeit als auch für Sexualität gesehen werden muss? Welche Grundlagen sind dafür nötig - zum Vertrauen in sich selbst und andere.
Studien sind dieser Frage auf den Grund gegangen und haben herausgefunden, dass in einer Familienatmosphäre, in der ein autoritäres Weltbild gelebt wird, Vorurteile vorherrschen, Kategoriendenken und stereotype Meinungen gelten, Misstrauen entsteht, kognitive Inflexibilität, Unfähigkeit, Kompromisse zu schließen. In so einem Klima ist es kaum möglich, Selbstvertrauen zu entwickeln und das nötige Gefühl, sein Leben unter Kontrolle zu haben, zumindest es durch eigenes Verhalten Es ist für die persönliche Entwicklung wichtig, wie verlässlich emotionale Bindungen zu den Elternfiguren erlebt wurden, ob sie „einschätzbar“ in ihren Reaktionen waren, man ihnen vertrauen konnte, ob ein Gefühl der Sicherheit entstehen konnte, geliebt Wie wurde in der Herkunftsfamilie mit Aggression umgegangen, war es möglich sie zu leben, zu streiten, oder wurde sie als „negative“ abzuwertende Emotion nicht zugelassen und unterdrückt. In vielen Familien herrscht ein Idealbild einer heilen Familie, die nie streitet. Streit wäre einem Scheitern der Beziehung gleichzusetzen, einem Versagen, Harmonie aufrecht erhalten zu können. Zu einer lustvollen erotischen Begegnung gehört aber die aggressive Komponente dazu. Dies hat absolut nichts mit Gewalt zu tun, sondern mit Fähigkeiten wie um etwas kämpfen können, zupacken, begehren, zielgerichtet auf etwas zugehen, Gefühle wie Wut, Ärger ausdrücken zu können. Diese Fähigkeiten sind kraftvoll, erzeugen Spannung, vermitteln emotionales Engagement. Menschen, denen es ungeheuer wichtig ist, die Kontrol e über das eigene Verhalten nicht aus der Hand zu geben, die unter strenger Selbstbeobachtung stehen reagieren wenn diese nicht gewährleistet ist oder als gefährdet erlebt wird, mit völliger Verunsicherung und Angst vor Persönlichkeitsverlust. Kontrollverlust bedeutet für sie, sich nicht mehr zurechtfinden zu können, Verlust von Selbstachtung, Angst, Situationen nicht mehr meistern zu können, Ängste, die existentiell bedrohen. Dieses Angstgefühl wird generalisiert, das heißt auf das gesamte Lebensgefühl übertragen und als irreversibel erlebt nach dem Motto „einmal die Kontrolle nicht haben, für immer verloren“. Dahinter steckt das Bedürfnis, sich durch absolute Kontrolle vor al em Unvorhergesehenen schützen zu können, dadurch keine Fehler zu machen und nur davon Handlungssicherheit ableiten zu Eine genussvoll erlebte Sexualität bedeutet aber, Kontrol e zeitweise aufgeben zu können, sich überlassen zu können, ohne die Persönlichkeit darin gefährdet zu Grenzen ziehen und anerkennen können – Nähe - Distanz Hier wird die Fähigkeit angesprochen, eine eigene vom Partner unabhängige Individualität und Identität aufbauen zu können. Grundlagen dazu werden in der Entwicklung und der Herkunftsfamilie gelegt. Wurden Autonomiestrebungen des Kindes ermutigt, beachtet, gefördert oder behindert oder gar bestraft. Wurde mit Kommunikationsverweigerung als Strafe reagiert, konnte emotionale Sicherheit auch in Konfliktsituationen vermittelt werden? Wurden persönliche Grenzen der einzelnen Familienmitglieder geachtet beziehungsweise wie wurden Grenzen gezogen? Hatte jeder seinen persönlichen individuellen Freiraum, oder wurde eigenständiges Verhalten als Entfernen aus der Familie und als „Verrat“ gedeutet und daher nicht („Wir machen alles gemeinsam, mein Partner erzählt mir al es, ich weiß genau über den anderen Bescheid, wir gehen nie getrennt weg) Beziehungen, in denen es nicht für jeden auch einen Freiraum, den er leben darf gibt, keine Grenzen, die selbstverständlich geachtet werden oder die sogar als Lieblosigkeit interpretiert werden, bieten guten Boden für Sexualstörungen. Eine „letzte“ Möglichkeit, Grenzen zu ziehen oder sich einen Freiraum zu schaffen, ist dann die „Verweigerung“ in Form von Libidoverlust, Erektionsstörungen, Schmerzen Andererseits ist die Frage wichtig, war das Erleben von sowohl emotionaler als auch körperlicher Nähe in der Herkunftsfamilie möglich, wurde Zärtlichkeit und Berührung in der persönlichen Entwicklungsgeschichte erlebt? Oder mussten Gefühle und Sehnsüchte nach Gehaltenwerden und Versorgtwerden -weil unerfüllbar- unterdrückt Eng mit dem Gefühl, eigene Grenzen wahrnehmen zu können, diese auch ziehen zu können, jene anderer anerkennen zu können ohne sich in seiner Persönlichkeit eingeschränkt oder gefährdet zu fühlen, ist das Gefühl der Bewahrung der Autonomie trotz fester Beziehung verknüpft. Vielfach entstehen Störungen im Bereich Sexualität als versteckter Ausdruck einer Angst, von der Befriedigung, die der Partner verschaffen kann abhängig zu werden, die persönliche Autonomie zu verlieren, quasi nicht mehr sein eigener Herr/eigene Frau zu sein.
Ein junges Paar schildert die gemeinsame Sexualität als sehr befriedigend, solange sie getrennt gewohnt haben. Sie seien dann zusammen gezogen, da sie vor hatten, einen gemeinsamen Haushalt mit Kindern zu gründen. Seit sie zusammen wohnen, sei bei ihr die sexuel e Lust weg. Im weiteren Verlauf der Gespräche stel t sich heraus, dass die junge Frau Angst habe, abhängig zu werden wie ihre Mutter, die Entwertungen des Partners in Kauf genommen hatte wegen Sex und um nicht al ein sein zu müssen. Genussfähigkeit – Wahrnehmen und Befriedigen eigener Bedürfnisse Hierbei handelt es sich um die Fähigkeit, sich selbst wahrnehmen zu können in seinen physischen und psychischen Bedürfnissen. Auch hiefür stel t die persönliche Entwicklungsgeschichte die Weichen. Wie wurde in der Herkunftsfamilie mit Wünschen und Bedürfnissen umgegangen, wurden sie in „vernünftige“ und „unvernünftige“ eingeteilt, wurde elementaren Bedürfnissen nach Nähe, Berührung, Zärtlichkeit, Trost, Entspannung nachgegeben, oder entsprachen sie nicht dem Wertesystem der Familie. In einer Atmosphäre, wo individuel en Bedürfnissen kein Raum gestattet wird, lernt man diese Bedürfnisse zu „vergessen“, sie einfach nicht mehr wahr zu nehmen, da dies nur unlustvolle Spannung erzeugt, weil keine Befriedigung möglich ist. Dies ist ein Schutzmechanismus vor Dauerfrustrationen Ein wichtiger Faktor zur sexuellen Zufriedenheit ist aber die Fähigkeit, Lustgefühl erstens spüren, zweitens zulassen, drittens genießen zu können, sich seinen Gefühlen überlassen zu können. Dazu ist es nötig, Bescheid zu wissen darüber was man braucht, was einem gut tut und diese Bedürfnisse auch ernst zu nehmen.
Es ist einsichtig, dass andernfalls Lust gar nicht wahrgenommen werden kann, oder ein Orgasmus nicht als angenehm empfunden werden kann.
Ist es in der individuellen Entwicklungsgeschichte möglich gewesen, seinen eigenen Körper zu erkunden, selbst an sich zu lernen, was lustvoll ist was nicht? Es ist oft erstaunlich, wie mühsam Menschen in einer Psychotherapie lernen müssen, Körpergefühle wahrzunehmen, als angenehm oder unangenehm zu differenzieren und identifizieren, ja sich überhaupt an sie „heranzuwagen“.
Andererseits herrschen oft völlig verzerrte Vorstel ungen über die Funktionen des Körpers, über die der Geschlechtsorgane und über den Ablauf der sexuellen Erregung. Nicht selten kommen besonders Männer in die Sexualsprechstunde mit einer „Dampfkesseltheorie“, die besagt, dass sich sexuelle Spannung, wenn sie nicht durch entsprechende Befriedigung sofort entladen wird, auf die körperliche Gesundheit schädlich auswirkt – sich quasi „aufstaut bis zum Bersten“. Dass Erregung ein Prozess ist, der abklingen und sich wieder aufbauen kann, muss oft Wie ist das persönliche Körperbild ? Voraussetzung einer lustvoll erlebte Sexualität ist sicherlich auch, wie wohl sich jeder in seinem Körper fühlt, wie sehr er sich „gefäl t“, nicht al zu kritisch jeden vermeintlichen Makel innerlich anprangert und sich damit einen unbeschwerten Zugang zum Körper verwehrt.
Individuelles Skript von Sexualität und Beziehung Aus al en den vorhergenannten Faktoren ergibt sich wie ein Puzzle ein individuelles Skript von Sexualität und Beziehung, zusammengesetzt aus Beziehungserfahrungen, körperlichen Erfahrungen, Selbstbild, Körperbild. Nicht zu unterschätzen sind die „Botschaften“ der Herkunftsfamilie, die vielfach lange gar nicht bewusst ins Erwachsenenalter mitgetragen werden: ein hässliches oder ungewolltes Kind gewesen zu sein, nicht erfolgreich, ungeschickt, oder Sätze wie „Männer wollen nur das Eine“, „Kinderkriegen ist schrecklich, Kinder sind Last“. Oft sind es auch Doppelbotschaften: zum Beispiel wird vor Sexualität gewarnt, aber nach der Eheschließung beispielsweise soll sie aber wunderbar und angstfrei funktionieren, ist nicht nur erlaubt, sonder sogar Pflicht usw.
Zentrale Rolle spielt der persönliche Stellenwert, der der Sexualität im Leben eingeräumt wird, welche Bedeutung Sexualität innerhalb einer Partnerschaft hat. Wird sie als bindungsstiftend erlebt, als Ausdruck von Zusammengehörigkeit, zum Erhalt psychischer und physischer Gesundheit, als eheliche Pflicht, Bringschuld dem anderen gegenüber, als Erlebnisbereich, Triebkraft, Körperreaktion? Wird sie als Reproduktionsnotwendigkeit oder als Möglichkeit, sich selbst und einander Wird absolute Ausrichtung des sexuellen Interesses auf den Partner erwartet und die Sexualität mit sich selbst als Konkurrenz und Interessensabwendung erlebt? Selbstbefriedigung als müder Ersatz, ist der Partner nicht greifbar.
Körperliche Störungen als Maske sexueller Probleme Oftmals übernimmt der Körper die Funktion, ein sexuel es Problem auszudrücken und quasi für die/den Betroffene/n zu „sprechen“. Ausdrucksmöglichkeiten sind beispielsweise rezidivierende Pilzerkrankungen, immer wiederkehrende Harnwegsinfekte, Schmerzen beim Verkehr, Unterbauchbeschwerden (chronic pelvic pain), Menstruationsstörungen, häufige Prostatitis usw. Hinter diesen körperlichen Maskierungen verbergen sich meist Beziehungskonflikte, die innerhalb der Partnerschaft nicht anders ausgetragen werden können. Sie dienen dazu, Grenzen zu ziehen, sich vor Sexualität zu schützen. Erst wenn es möglich wird, den Konflikt zu identifizieren und zu verbalisieren, also ihn auf eine bearbeitbare Ebene zu bringen, ist ein Verschwinden der Symptome zu bemerken.
Wieder ein Beispiel zur Il ustration aus meiner Praxis: Ein etwa vierzig jähriger Mann kommt wegen rezidivierender Prostatitis; er ist geschieden, hat zwei kleine Kinder, die er sehr selten sehen kann. Er ist seit einiger Zeit mit einer Frau li ert, sie können sich vorstel en, zu heiraten. Sie wil unbedingt Kinder. Seit sie nicht mehr verhüten, leidet er häufig an Prostatitis. In den weiteren Gesprächen kann der Mann über seine Trauer, seine Kinder kaum zu sehen, sprechen und seine Angst, weitere Kinder in die Welt zu setzen und sie womöglich wieder zu verlieren. Als er seine Gefühle verbalisieren kann und mit seiner Frau offen über seine Sorgen diskutieren kann, bessert sich die Die sexualtherapeutische Arbeit unterscheidet sich heute von der ursprünglichen Sexualtherapie von Master und Johnson oder Therapieansätzen, die auf konkreten Zur Zeit Masters und Johnsons trafen die Störungen eher das Konzept Störungen entstehen aus Angstspannung Mangel an Vertrautheit, daher hatten die Übungen Erfolg. Sexualität war ein eher tabuisiertes Thema, das Rollenverständnis war ebenfalls ein anderes und viel Information über die Sexualfunktionen fehlte. Daraus resultierten Funktionsstörungen aufgrund von Unsicherheiten und Gewissensängsten, die anhand der Übungen, die ein vorsichtiges Annähern und Verstehen möglich machten, behoben werden konnten. Heute greifen diese Übungen nur begrenzt, da viel mehr der Erlebnisbereich und die Qualität der sexuellen Beziehung im Vordergrund stehen. Es braucht daher weniger Störungswissen sondern Bedingungswissen. Der Wandel vom sexuellen Verhalten Sexualstörungen als kommunikatives Signal in der Paarbeziehung Die Partnerschaft ist sozusagen ein fortlaufender Änderungsprozess, der erforderlich macht, Sexualität ebenso als solchen zu betrachten. Die meisten Paare, die in Sexualberatung kommen, haben den Anspruch, ihre Sexualität habe eine über die Jahre gleich bleibende erotische, leidenschaftliche Konstante zu sein. Wie ist das aber möglich, wenn äußere Umstände (Zeit füreinander, Arbeitsstress, Kindererziehung), innere Befindlichkeiten (Erfolge Misserfolge, Kränkungen, Verluste) und körperliche Bedingungen (Alterungsprozesse, Krankheit, Erschöpfung) einer kontinuierlichen Änderung unterliegen? Das bedeutet, die Sexualität muss immer wieder diesen Bedingungen angepasst werden, neu zwischen den Partnern verhandelt werden. Immer wieder sind Situationen zu schaffen, in denen Sex möglich ist, Rahmenbedingungen ausfindig gemacht werden, die Erotik oder Zärtlichkeit entstehen lassen. Vielfach wird Sexualität reduziert auf den Geschlechtsakt und ausschließlich aus diesem Gesichtswinkel betrachtet und beurteilt und nicht als Gesamtspektrum der körperlichen Begegnungsmöglichkeiten.
Sexualität ist nicht nur ein Lernprozess und ein gemeinsamer Entwicklungsweg in einer Beziehung. Sexualität schafft Bindung, ist Intimität. Sie ist einerseits Ausdrucksmittel von Wohlbefinden, emotionaler Nähe und Zusammengehörigkeit, andererseits sensibel für Brüche oder Phasen des Übergangs in einer Partnerschaft. Kränkungen, Enttäuschungen, ungleiche Machtverhältnisse in der Partnerschaft, Belastungen durch die Familie können sich durch Veränderungen im sexuellen Leben und Erleben bemerkbar machen. Beziehung bedeutet, sich mit Konflikten auseinandersetzen zu müssen, ein Neudazulernen, sich Veränderungen durch konstruktive Kompromisse anzupassen.
Jedes Paar schreibt seine eigene Geschichte des Beginnes der Beziehung. Warum hat man sich in den anderen verliebt, wie war die erste Zeit des Kennenlernens? Wenn es auf die Frage, warum man denn noch zusammen ist, keine gefühlsmäßige Antwort mehr gibt, das Erinnern an die Kennenlernphase schwer fällt oder Gleichgültigkeit hervorruft, ist eine wichtige Basis offenbar verloren gegangen: das Gefühl der Zusammengehörigkeit als Fundament einer geglückten Beziehung.
Sexualität hat viele Gesichter, das Wichtigste ist wahrscheinlich das Erhalten der iteratur :
Buddeberg (1987): Sexualberatung; Ferdinand Enke Verlag Stuttgart Clement, U. (2001): Systemische Sexualtherapie; Z Sexualforsch; 14: 95 – 112; Fiegl, J. (2002): Der Wunsch nach Verschmelzung; Sexuelle Zufriedenheit – ein Gradmesser für Stabilität beziehungsweise Gefährdung von intimen Beziehungen? In: Mehta,G, Rückert,K: Bindungen, Brüche, Übergänge; Falter Verlag Hornung, R, Buddeberg, C, Buchner, T. (Hrsg) (2004): Sexualität im Wandel; Reihe Sigusch, V. (Hrsg.) (2007): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung; Georg Thieme Schmidt, G. (1996): Paartherapie bei sexuellen Funktionsstörungen; In: Sigusch, V. (Hrsg): Sexuelle Störungen und ihre Behandlung. Thieme Verlag Welter-Enderlin, R (1994): Glut unter der Asche; Leidenschaft und Langeweile bei Paaren in Therapie, In: Familiendynamik 19/3, S. 233 ff Zilbergeld, B.(1996): Die neue Sexualität der Männer. Tübingen DGVT Verlag

Source: http://www.psygyn.at/news/28tag/Fiegl.pdf

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